March 9, 1944 to Eberhard Bethge, from Tegel
Ich habe mich in letzter zeit mit der nicht durch die Renaissance bedingten, sondern aus dem Mittelalter, vermutlich aus der Kaiseridee im Kampf gegen das Papsttum, erwachsenen “Weltlichkeit” des 13. Jahrhunderts (Walther, Nibelungen, Parsival, erstaunlich die Toleranz gegen die Mohammedaner in der Gestalt des Halbbruders Parsivals Feirefiz!, Naumburger und Magdeburger Dom) beschäftigt.
Es is nicht eine “emanzipierte”, sondern eine “christliche”, aber antiklerikale Weltlichkeit.
Wo ist diese, von der Renaissance ganz wesensverschiedene, “Weltlichkeit” eigentlich agbebrochen?
Ich glaube, bei Lesing – im Unterschied zur westlichen Aufklärung – noch etwas davon zu entdecken, in anderer Weise auch noch bei Goethe und später bei Stifter und Mörike (von Claudius und Gotthelf ganz zu schweigen), garnicht aber bei Schiller und den Idealisten.
Es wäre so wichtig, hier zu einer guten Ahnenreihe zu kommen. Dabei stellt sich auch die Frage, welche Bedeutung der Antike noch zukommt. Ist sie noch ein echtes Problem und eine Kraftquelle für uns oder nicht? Die moderne Betrachtung unter dem ästhetischen Gesichtspunkt des “polis-Menschen” haben wird doch eigentlich auch schon hinter uns. Die klasizitische Betrachtung unter dem ästhetischen Gesichtspunkt ist doch nur noch für Wenige von Bedeutung und etwas museal. Die humanistischen Grundbegriffe – Menschlichkeit, Toleranz, Milde, Maß – sind schon bei Wolfram von Eschenbach und im Bamberger Reiter etc. in schönster Weise da und uns hier zugänglicher und verbindlicher als in der Antike selbst.
die Ahnenreihe genealogy die Aufklärung the Enlightenment
die Antike classical antiquity das Altertum antiquity Gesichtspunkt aspect, point of view die Gestalt form, shape Grundbegriff basic concept der Halbbruder half brother die Idealisten (pl) the Idealists der Kampf struggle die Kraftquelle source of power das Maß measure, dimension, proportion die Menschlichkeit humanism die Milde leniency, gentleness das Papsttum papacz der Mohammedan Muslim der Unterschied difference der Vorgang act die Weise way die Weltlichkeit worldliness |
beschäftigen sich occupy onself with; study
entdecken discover schweigen be silent verstehen understand zusammenhängen relate to, be connected with *** abgebrochen broken off bedingt conditional, conditioned erstaunlich astonishing erwachsen grown up, come of age geschlossen closed gültig valid mindestens least, at least museal museum-like verbindlich authoritative, binding vermutlich presumably, probably wesensverschiedene essentially different wichtig important zugänglich accessible polis (Greek) city, city state |